das Netzwerktreffen der Wohnungslosen_Stiftung in Nürnberg vom 20. bis 24. Februar 2024 war ein großartiger Erfolg.
Offenes Netzwerktreffen in Nürnberg
Mehr als 35 Erfahrungsexpert:innen (= Menschen mit Wohnungslosigkeitserfahrungen) aus 16 deutschsprachigen Orten und in unterschiedlichen Projekten und Initativen organisiert, kamen auf Einladung der Wohnungslosen_Stiftung in Nürnberg zusammen. Der Anreisetag sowie der gesamte Mittwoch diente dem Kennenlernen und dem intensiven Erfahrungsaustausch.
Die Straßenzeitung Straßenkreuzer und die damit verbundenen Projekte wurden in der Mittagspause von der Redakteurin Alisa vorgestellt [https://www.strassenkreuzer.info], und anschließend zeigten Ils und Richie der Gruppe die Stadt aus ihrer Sicht [https://www.strassenkreuzer.info/stadtfuehrungen].
Ein großer Dank geht raus an das Projekt 31 - Selbstverwaltetes Kultur- und Jugendzentrum [https://projekt31.org/] für das leckere Essen am Dienstag und an Olga und die Männer am Herd [https://maenner-am-herd.de/] für das leckere Essen am Mittwoch sowie an das Team von Designoffices für die sehr preisgünstige Bereitstellung des Worklabs [https://www.designoffices.de/conference-spaces/work-lab], in dem wir entspannt und fokussiert arbeiten konnten und auch an die Stiftung Obdachlosenhilfe Bayern [https://www.stiftung-obdachlosenhilfe.bayern.de/], ohne die dieses Netzwerktreffen gar nicht möglich gewesen wäre.
Schon im Vorfeld der Forschungskonferenz an der Technischen Hochschule Georg Simon Ohm gab es eine intensive Abstimmung mit Prof. Dr. Frank Sowa [https://www.th-nuernberg.de/person/sowa-frank/] und seinem Team - bei dem es vor allem um Fragen der inhaltichen Beteiligung der Erfahrungsexpert:innen und der Ausgestaltung des Programms, aber auch um eine Reihe organisatorischer Fragen ging. Am Vorabend der dreitätigen Konferenz kam Frank ganz unkompliziert vorbei und beantwortete alle unsere Fragen rund um die Konferenz. Die intensive Beteiligung von Erfahrungsexpert:innen freue ihn sehr und werde die Konferenz bereichern.
Foto: offenes Netzwerktreffen der Wohnungslosen_Stiftung im Worklab Nürnberg - Sybill.
Forschungskonferenz Wolokon 2024
Am Donnerstag, den 22.02.2024 startete die dreitägige Konferenz „Fragile Behausungen. Prekäres Wohnen und Wohnungslosigkeit in Zeiten multipler Krisen“ (Wolokon 2024) [https://wolokon.de/] vom 22. bis 24. Februar 2024 an der Technischen Hochschule Georg Simon Ohm (Ohm).
Die Tagung war mehr als nur eine Fachkonferenz zu Wohnungslosigketi, an der auch wohnungslose Menschen teilnahmen - es war eine Konferenz, die von den 35 Erfahrungsexpert:innen aus dem Netzwerk der Wohnungslosen_Stiftung maßgeblich mit geprägt worden ist.
Foto: Wolfgang Gillitzer, Quelle: https://www.th-nuernberg.de/pressemitteilung/5273-loesungen-fuer-wohnungslosigkeit-brauchen-vernetzung/
Manja aus Heimbach und Hartmut, der mit Fahrrad, Anhänger und Hund Emma ohne Wohnung in Deutschland und Europa unterwegs ist [https://hartmutnoelling.simdif.com/], eröffneten die Konferenz mit kurzen Grußworten.
Janita aus Essen (https://janitas-blog.jimdofree.com/) hatte am ersten Konferenztag mit einer Lesung aus ihrem Buch "Die Anderen - die harte Realität der Obdachlosigkeit" die Hauptbühne und die gespannte Aufmerksamkeit aller Teilnehmer:innen für sich allein. Sie stellte von Anfang an klar, dass sie nicht darüber Auskunft geben wolle, wie sie obdachlos geworden sei. Janita fordert uns auf, obdachlosen Frauen mit der Würde und dem Respekt zu begegnen, die jedem Menschen zustehen. Ihr Buch sei ein dringender Appell für einen Perspektivwechsel.
Hartmut war später am Tag nochmal mit einem Statement zum Thema "Wunsch und Wirklichkeit! - Sichtweise Betroffener zur ordnungsrechtlichen Unterbringung" in einer Arbeitsgruppe vertreten.
Shania vom Medienkollektiv Frankfurt [https://www.mkf.fm/] sowie die Aktivistinnen Jule und Alex präsentierten ebenfalls auf der Hauptbühne und auf Einladung der Wohnungslosen_Stiftung die Filmdokumentation "ein Haus für Alle – was wir brauchen, was wir können" (2023) [https://www.mkf.fm/kinofilm] und stellten sich anschließend den Nachfragen.
Inhaltlich damit in Verbindung stand ein - ebenfalls von der Wohnungslosen_Stiftung angeregter - Workshop am nächsten Tag mit dem Titel "Kollektive Selbstwirksamkeit wohnungsloser Menschen am Beispiel Habersaathstraße 40-48" [https://strassengegenleerstand.de/]
Der von Janet, Annegret und Daniel organisierte Open Space nach dem Motto "Platte meets Uni" startete draußen in der Kälte. Angelehnt an verschiedene Formate, die die Initiative vor der Besetzung probierte, um eine Vernetzung zwischen Bewegung und Betroffenen zu ermöglichen, sollte die Praxiserfahrung wohnungsloser Menschen in Ansätzen erlebbar machen. Ziel dieser Formate war es, unterschiedliche Ausgangspunkte deutlich zu machen, sie nicht nur in der Theorie zu verhandeln, sondern durch das praktische Erleben zu reflektieren, um so dem Versuch von Augenhöhe aller Beteiligten, trotz verschiedener Ressourcen und Privilegien, gemeinsam näher zu kommen.
Augenhöhe ist unerlässlich in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Wohnungs- und Obdachlosigkeit, unerlässlich für alle, die an einem politischen oder gesellschaftlichen Umdenken bei diesem Thema mitwirken wollen. Als weiteres Anliegen wurde die Nutzung von leer stehenden Häusern und die damit verbundenen Herausforderungen als legitimes Mittel der Aneignung von Wohnraum durch von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen in den Vordergrund gestellt.
Jürgen vom Armutsnetzwerk [http://www.armutsnetzwerk.de/] und Ralf Axel aus Berlin trugen zum Thema Wohnungslosenzählungen vor, warum die verschiedentlich versuchten Zählungen wohnungsloser Menschen von vielen wohnungslosen Menschen kritisiert werden und was die Alternativen dazu wären, beispielsweise die Zählung von Leerstand.
Mit einem imposanten Werbestand war auch die Gruppierung "Selbstvertretung wohnungloser Menschen e.V." [https://selbstvertretung-wohnungsloser-menschen.org] der Wohnungslosenhilfe Freistatt anwesend.
Großen Eindruck hinterließ die Lesung von Markus Ostermair, der - ebenfalls auf der Hauptbühne - aus seinem Buch "Der Sandler" las und anschließend Fragen aus dem Publikum beantwortete. [https://www.perlentaucher.de/buch/markus-ostermair/der-sandler.html]. Kaum einem anderen deutschsprachigem Autor ist eine so dichte Beschreibung der Lebenswirklichkeit obdachloser Menschen gelungen wie dem Münchner Autor. Schade, dass Markus das zum Roman erschienene Hörbuch nicht selbst eingesprochen hat. Wir könnten ihm stundenlang zuhören.
Auf dem Poetry-Slam am zweiten Konferenztag trug Lucy aus Leipzig einen selbstverfassten Text vor und beeindruckte damit das aufmerksam zuhörende Publikum.
Peer-to-Peer - wie wohnungslosigkeitserfahrene Menschen Wohnungslosigkeit bekämpfen [können]
Einer der Höhepunkte der Konferenz war der Workshop am Samstag für zum Thema "Peer-to-Peer, Need-to-Need, Buttom up or Top down? Wie wohnungslosigkeitserfahrene Menschen dazu beitragen [können], Wohnungslosigkeit zu bekämpfen. Ansätze aus Wien und Leipzig aus Sicht von Erfahrungsexpert:innen – ein moderiertes Gespräch"
Die Bedeutung von Erfahrungsexpert:innen (Peers) im Handlungsfeld Wohnungslosigkeit/ Wohnungsnotfallhilfe wird gegenwärtig verstärkt wahrgenommen. Während im Wiener Projekt - zertifizierte Peer-Ausbildung am Neunerhaus [https://www.neunerhaus.at/peercampus] in einem mehrstufigen Verfahren interessierte Menschen ausgewählt und die Ausbildung klar strukturiert ist, bietet der Ansatz der Peer-Gruppe in Leipzig bei Safe - Straßensozialarbeit für Erwachsene [https://www.suchtzentrum.de/safe] größere Spielräume für eine Integration von Erfahrungsexpert:innen und selbstbestimmten Arbeitsinhalten.
Erfahrungs:expertinnen aus beiden Projekten Chriss und Nadine aus Leipzig sowie Franz und Sonja online dazu geschaltet aus Wien haben ihre Arbeit und ihre Motivationen kurz vorgestellt und im Gespräch im Workshop werden die Grenzen und Potenziale beider Ansätze beleuchtet. Anschließend kamen die Teilnehmenden des Workshops miteinander ins Gespräch (eine ausführliche Dokumentation des Gespräches folgt).
Dieses Gespräch wird am 11. April 2024 in Wien fortgesetzt auf der ExPEERience [https://www.neunerhaus.at/veranstaltungen/expeerience-2024/]
Auf dem Foto die Strassenexpert:innen Strunzi, Stef, Danger, Chriss, Nicole und Luisa [https://research.vu.nl/en/persons/luisa-schneider] in einer Ad-Hoc-Spontan-Session. Foto: Sybill
Wohnungslosenforschung? Relevanz, Mehrwert und Mitwirkung
Zurecht und mehrfach von Erfahrungsexpert:innen angemahnt wurde die Frage nach dem Mehrwert von Forschung für wohnungslose und insbesondere obdachlose Menschen.
Ein weiterer Beschwerdepunkt war, dass insbesondere bei Master- und Bachelor-Arbeiten das Wissen und die Expertise wohnungsloser Menschen oftmals nur "abgegriffen" werden und von den Studierenden danach häuftig nichts mehr zu hören ist. Selbst einfachste Selbstverständichkeiten wie die Zahlung einer Aufwendungsentschädigung oder ein Mindestlohn ist häufig nicht gewährleistet. In der Zeit, in der einkommensarme Menschen Fragen beantworten oder sich einer Diskussion stellen, ist eben keine Zeit zum Anstehen bei der Tafel, zum Betteln, zum Flaschensammeln oder Straßenzeitung-Verkaufen. Eine Gedanken- und Respektlosigkeit, die ganz eindeutig auf strukturelle Defizite der Hochschulen hinweist. Hier müssen dringend weitere Gespräche in Kontexten von Hochschule und Politik geführt werden.
Aber auch auf der Ebene von Promotions- oder Dissertationsvorhaben kommt es vor, dass unterschieden wird zwischen Interviews mit Menschen aus der wohnungslosen oder obdachlosen "Zielgruppe" und weiteren Expert:innen-Interviews - das sind dann Menschen, die ÜBER wohnungslose Menschen reden. Damit kommt ganz subtil eine Geringschätzung zum Ausdruck, die der Expertise wohnungsloser Menschen entgegengebracht wird. Das ruft naturgemäß Kritik hervor.
Von einer partizipativen Heransgehensweise in Forschungsprojekten kann also bestenfalls nur in Ansätzen gesprochen werden.
Es ist höchste Zeit, bereits bei der Konzeption und Entwicklung von Forschungsprojekten wohnungslose Erfahrungsexpert:innen in einen Prozeß mit einzubeziehen, bei dem ausgehandelt wird, was genau die Fragestellung sein sollte. Das aber setzt die Fähigkeit von Wissenschaftler:innen voraus, sich auf ergebnisoffene Forschungsdesigns einzulassen.
Weiteren Forschungsbedarf gibt es - das wurde im abschließenden Plenum auch so festgestellt - auf jeden Fall in Bezug auf die Frage, wie Wohnungslosigkeit möglichst sofort abgeschafft werden kann. Wohnungen stehen leer. Hotelzimmer auch.
In diesem Sinne, solidarische Grüße,
Stefan
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