2024 05 drObsGuten Tag,

zur Europawahl gab es zahlreiche Aufrufe, wählen zu gehen, Hinweise, wie obdachlose Menschen sich an den Wahlen beteiligen könnten und Veranstaltungen wie "Wir kommen Wählen", die sich ausdrücklich an Menschen mit Wohnungslosigkeitserfahrungen richteten.

Jane Jannke von der Dresdner Strassenzeitung Drobs [https://drobs-strassenzeitung.de] hat die Europawahl zum Anlass genommen, mal etwas genauer das Thema politische Beteiligung wohnungsloser Menschen zu recherchieren und dabei auch bei der Wohnungslosen_Stiftung nachgefragt.

Eine der zentralen Aussagen ist, dass es keine gute Idee ist, die Frage der politischen Beteiligung armer und wohnungsloser Menschen allein auf das Thema "Wahlen" zu beschränken.

Nachstehend könnt ihr einen Auszug aus dem Artikel lesen, der in der Drobs-Ausgabe von Mai 2024 erschienen ist. Viel Spaß dabei!

Solidarische Grüße,

Stefan

 

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Armutszeugnis

Nie war das Misstrauen in Staat und Parteien in Deutschland größer als heute. Ein Viertel der Wahlberechtigten macht von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch. Studien zeigen: Es sind vor allem Arme, die sich von der Politik nicht mehr gehört fühlen und am Wahltag zu Hause bleiben

von Jane Jannke

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Wer ohne festen Wohnsitz wählen will, muss sich auf eigenen Antrag mit einer Adresse im Wähler*innen-Verzeichnis eintragen lassen – eine Hürde, die für Menschen, die mit Überleben beschäftigt sind, meist viel zu hoch ist. Aber auch in den Übergangswohnheimen für Wohnungslose sieht es nicht wirklich anders aus. So werden zwar die Wahlunterlagen in die Einrichtungen geschickt, denn die Bewohner*innen sind dort offiziell gemeldet. Doch an der Pforte abholen und öffnen müssen sie sie selbst. „Wir haben die Bewohner in der Vergangenheit nicht gesondert darauf hingewiesen, dass Wahlen stattfinden“, bestätigt etwa die Heimleitung der Dresdner „Wetterwarte“ auf Nachfrage. „Es ist natürlich wichtig, dass jeder von seinem Wahlrecht Gebrauch macht. Aber hier ist einfach jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt“, so Heimleiterin Kerstin Roth. Die meisten hätten sich aus der Politik mehr oder weniger verabschiedet.

Mehr Zivilgesellschaft wagen

Und das durchaus zu Recht – findet wiederum der Berliner Sozialwissenschaftler Stefan Schneider, der 2021 mit der „Wohnungslosenstiftung“ eine bundesweite Selbstvertretung für wohnungs- und obdachlose Menschen gegründet hat. Schneider hält es für falsch, politische Beteiligung wohnungsloser Menschen allein auf die Teilnahme an Wahlen zu reduzieren und sich bei der Bekämpfung von Wohnungslosigkeit vor allem auf den Staat zu verlassen. „Das eigentliche Problem in diesem Land ist doch, dass die Menschen ihre Souveränität verloren haben – beim Wohnen, bei der Arbeit. Das ist auch der Grund, warum vor allem arme Menschen immer seltener zur Wahl gehen.“ Wählen sei inzwischen etwas für Wohlhabende. „Sie wählen, um die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten, nicht, um sie zu verändern.“ Schneider geht noch weiter. Nichtwählende seien inzwischen die stärkste Kraft der Gesellschaft. „Da muss man sich fragen, welche Legitimation die Herrschenden überhaupt noch haben. Was wir brauchen, ist ein anderes System, eines, das mehr basisdemokratische Beteiligung zulässt.“

„Statt wohnungs- und obdachlose Menschen zu zählen, sollte man Leerstand zählen“

Beteiligung, die sich wohnungslose Menschen mit der Hilfe der Wohnungslosenstiftung erstreiten. Zweimal im Jahr werden immer in einer anderen Stadt bundesweite Vernetzungstreffen organisiert. Dort werden die Themen besprochen, die ihnen unter den Nägeln brennen, aber in der Politik kaum Gehör finden. Daraus entstehen Projekte, die – wenn auch häufig nur im Kleinen – wirkliche Verbesserungen bringen. Die Wohnungslosenstiftung unterstützt dabei sowohl organisatorisch als auch finanziell. Wer bislang dachte, Housing First sei eine wirklich tolle Sache, bekommt von Stefan Schneider umgehend den Wind aus den Segeln genommen. „Housing First ist in der aktuell praktizierten Form vor allem eine sehr teure Sache. Von diesem Geld könnte man nachhaltig günstigen Wohnraum schaffen. Stattdessen sehen wohnungslose Menschen, dass es bundesweit 360 000 Quadratmeter leer stehende Wohnfläche in Bundeseigentum gibt – aber sie kommen da nicht rein. Statt wohnungs- und obdachlose Menschen zu zählen, sollte man Leerstand zählen. Das ist das, was diese Menschen wollen.“

Aus Sicht marginalisierter Gruppen sei der Staat in erster Linie ein Repressionsorgan, sagt Stefan Schneider. Das sei ein Grund, warum sich die Angehörigen dieser Milieus häufig sehr bewusst gegen eine Wahlteilnahme entschieden. „Weil sie diesem Staat kein Mandat erteilen wollen. Beantragen Sie mal Bürgergeld, und Ihnen fehlen Papiere. Und dann machen Sie abends den Fernseher an und hören irgendeinen Politiker von der CDU über Bürgergeldempfänger herziehen. Ich habe das Gefühl, dass wohnungs- und obdachlose Menschen für die Herrschenden schon gar nicht mehr dazugehören. Keine politische Partei nimmt sich ihrer wirklich an.“ Die Beendigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sieht Schneider vor allem als zivilgesellschaftliche Aufgabe: „Initiativen zur Verhinderung von Zwangsräumungen oder gegen Zweckentfremdung von Wohnraum, Hotelgutscheine für Obdachlose im Winter – da müssten wir hin, und niemand wäre mehr auf der Straße!“

 

Solidarische Hinweise